Ich bin überzeugt, dass eine revolutionäre Herausforderung an die gegenwärtige soziale Ordnung notwendigerweise auch eine Herausforderung an die letzten 10 000 Jahre der institutionellen Entwicklung sein muss, welche sie erschaffen hat. Kurz gesagt, revolutionäre Kritik muss auf die Zivilisation selbst abzielen. Aber was heißt das genau?
Auf allen Seiten der sogenannten Debatte über Zivilisation unter Anarchist*innen, scheint Missverständnis die einzige Konstante zu sein. Das ist nicht überraschend. Diese Konzepte sind kompliziert, besonders im Rahmen ihrer praktischen Anwendung im sozialen Kampf. Um mehr Klarheit zu gewinnen, ist es meiner Meinung nach notwendig ein paar Fragen zu untersuchen: Was ist revolutionäre Kritik? Was ist Zivilisation? Was bedeutet revolutionäre Zivilisationskritik im Bereich der Ideen? Was würde eine revolutionäre Zivilisationskritik auf praktischer Ebene bedeuten? Jede einzelne dieser Fragen eröffnet tausend weitere, besonders wenn wir versuchen diese auf eine revolutionäre Praxis zu beziehen. Aber das sollte nur diejenigen beängstigen die ihr Vertrauen in eine Ideologie gesetzt und sich selbst in einer, angeblich „revolutionären“, Identität eingeschlossen haben. Für den Rest von uns sollte dieses Infragestellen eine feine Herausforderung sein, ein Platz auf dem wir uns selbst aufs Spiel setzen.
Was ist eine revolutionäre Kritik?
Revolutionäre Kritik ist Kritik, die darauf abzielt, die derzeitige Gesellschaft in ihren Wurzeln herauszufordern, um einen Bruch mit dem Bestehendem zu erschaffen und eine radikale soziale Transformation herbeizuführen. Was könnte „revolutionär“ sonst bedeuteten? Jedoch gibt es hierfür viele Implikationen.
Zu aller erst, ist revolutionäre Kritik praktisch. Sie sucht nach einer Methode um sich selbst in dieser Welt zu entwickeln, um die heutige soziale Ordnung praktisch herauszufordern. Mit anderen Worten, sie ist Teil eines realen Kampfes gegen die Welt, die existiert.
Aus diesem Grund beginnt sie auch mit der Gegenwart. Eine praktische, revolutionäre Herausforderung an die Gegenwart wird von der Vergangenheit und der Zukunft Gebrauch machen, jedoch nicht durch sie definiert werden. Sie sind eher Werkzeuge, die im Angriff gegen die herrschende soziale Ordnung zu nutzen sind. Revolutionäre Kritik ist eine Praxis, die danach strebt alles unmittelbar hier und jetzt zu begreifen. Sie beinhaltet eine kontinuierliche, scharfsinnige Untersuchung des Staates, der kapitalistischen sozialen Beziehungen, des Klassenkampfes und der technologischen Entwicklung, wie wir ihnen heute begegnen.
Da revolutionäre Kritik auf einen Bruch mit der herrschenden Ordnung abzielt, beginnt sie mit einem Angriff auf all die Institutionen dieser Gesellschaft. Sie untersucht ihre fundamentalen Beziehungen zueinander und was diese Beziehungen bedeuten. Somit ist sie nicht so sehr an den Exzessen dieser Institutionen interessiert und auch nicht daran, dass sie den Werten, die sie proklamieren, widersprechen mögen, sondern daran, dass sie, sogar wenn sie ihren proklamierten Werten perfekt gerecht würden, darin scheitern die Grundbedürfnisse und die Wünsche der Menschen zu befriedigen. Diese Gesellschaft ist fundamental gegen das Leben, gegen die Menschen und gegen das Individuum, einfach weil ihre eigene Reproduktion die Unterwerfung der lebenden menschlichen Individuen unter ihre Bedürfnisse voraussetzt. Revolutionäre Kritik beginnt mit dieser Erkenntnis.
Revolutionäre Kritik weist außerdem moralische Kritik absolut zurück. Das könnte der wichtigste Aspekt im Rahmen meines Arguments sein. Revolution ist in der Praxis amoralisch. Selbst wenn von Zeit zu Zeit, manche in unseren Kämpfen die Rhetorik von „Gerechtigkeit“ und „ Rechten“ benutzen, hat unser revolutionärer Kampf nichts mit Gerechtigkeit oder Rechten oder irgendeinem Wert der außerhalb von uns selbst steht zu tun. Wir wollen diese Realität umwälzen, nicht weil sie ungerecht, böse oder gar „unfrei“ ist, sondern weil wir unsere Leben zurück haben wollen! Moral gehört zu dieser sozialen Ordnung. Sie wurde wieder und wieder benutzt um uns auf unserem Platz zu halten – immer abgesichert durch die Waffengewalt. Die Moral dient der Erhaltung des Bestehenden sehr gut, weil ihr letztes Wort immer der Zwang ist. Da wir das Bestehende zerstören wollen, müssen wir auch die Moral zerstören – besonders jene, die in uns existiert – damit wir diese Gesellschaft zwanglos angreifen können.
Zur selben Zeit weist revolutionäre Kritik Prinzipien nicht zurück[1]. Eher hilft sie uns, uns für eine prinzipielle Herangehensweise festzulegen, um konkret in unseren täglichen Leben gegen die herrschende Ordnung zu handeln. Der Mangel an revolutionärer Kritik kann dazu führen, bestimmte Erfahrungen der Unterdrückung, Ausbeutung und Herrschaft als isolierte Einzelfälle aufzufassen und dafür eine unmittelbare Lösung mit allen erforderlichen Mitteln zu suchen. Eine revolutionäre Kritik kann die Querverbindungen dieser Erfahrungen entlarven und aufzeigen wie die „Lösungen“ die von den Institutionen angeboten werden nur dazu dienen ihre Macht über unsere Leben auszudehnen. Wenn wir die Entscheidung machen unsere Leben durch die Revolte gegen die soziale Ordnung wieder anzueignen, dann wählen wir einen Weg der Welt zu begegnen. Für uns macht es keinen Sinn andere Mittel zu verwenden, als die, die den Zweck verkörpern uns unsere Leben wieder anzueignen. Das trifft auf einer persönlichen Eben und auf der Ebene der sozialen Revolution zu. Jedes Mal, wenn wir einen Kompromiss mit der Macht eingehen, ist dieser Teil unseres Lebens für uns verloren. Es gibt so viele Aspekte unseres Lebens, bei denen wir dazu gezwungen sind, gegen unseren Willen einen Kompromiss einzugehen. In den Kampffeldern, wo wir eine Wahl haben, wird uns eine anarchistische revolutionäre Kritik dazu bringen den Kompromiss zu verweigern und unsere Autonomie zu bewahren.
Was ist Zivilisation?
„Zivilisation“ ist ein verwirrendes Wort. Frühe europäische Eroberer assoziierten oft das, was „gut“ war mit der Zivilisation. Folglich würden sie, wenn sie großmütigen und aufrichtigen nicht-zivilisierten Menschen begegneten, sie hin und wieder als „zivilisierter“ als die Europäer*innen beschreiben. Heute wird die Idee der Zivilisation häufig mit gutem Wein, schönen menschlichen Erzeugnissen und feinen Geschmäckern assoziiert, aber in Wirklichkeit sind die Charakteristiken die von allen Zivilisationen geteilt werden, weit weniger angenehm: Herrschaft, Genozid und Umweltzerstörung um nur ein paar zu nennen.
Ein weiter Punkt der Verwirrung ist der, dass viele Menschen „Zivilisation“ als eine einzelne Entität begreifen, welche sich über die Zeit entwickelt. Dieser Auffassung liegt der Mythos des Fortschritts zu Grunde, durch welchen die moderne westliche Zivilisation, die jetzt die Welt dominiert, gerechtfertigt und idealisiert wird. Dieser Mythos nimmt an, dass sich die Menschheit entlang eines einzelnen, ziemlich geraden Pfades entwickelt hat, welcher dorthin führt, wo wir uns befinden. Tatsächlich jedoch entstanden Zivilisationen an mehreren verschiedenen Plätzen, ohne Verbindungen zueinander und ohne nur einem einzigen, gradlinigem Weg zu folgen. Die westliche Zivilisation, wird oft auf den „Fruchtbaren Halbmond“[2] zurückgeführt, welcher auch als „Wiege der Zivilisation“ bezeichnet wird. Jedoch haben die chinesische und die japanische Zivilisation sowie die der Inkas, Aztek*innen und Mayas, um ein paar zu nennen, keine Verbindung zu dieser „Wiege“. Der Aufstieg der westlichen Zivilisation war kein sanfter Pfad. Eher ist er das Kreuzen, Konvergieren und wieder Auseinanderlaufen bestimmter Pfade[3], manchmal durch den Handel, sehr viel öfters aber durch Konflikte. Folglich gab es im Laufe der Geschichte mehrere Zivilisationen. Eine Konvergenz aus einer Anzahl historischer Faktoren machte es der europäischen Zivilisation möglich ihre Eroberung auszuführen, welche sich heute über den ganzen Globus ausgebreitet hat. Jedoch ist die Idee einer einzelnen Zivilisation, welche sich entlang eines einzelnen Weges entwickelt hat, Teil der Ideologie des Fortschritts und eine revolutionäre Zivilisationskritik muss vorsichtig sein um diese Falle zu vermeiden, ansonsten kann dies schnell zu einer Perspektive führen, die einfach eine Umkehrung des Fortschrittskonzeptes ist, anstatt eine Zurückweisung dieses Mythos. So eine Umkehrung kann nur zu einem Aufruf, zur Rückkehr an einen imaginierten Anfang führen, welcher an sich schon ein Mythos ist. Eine revolutionäre Zivilisationskritik muss die der Fortschrittsidee innewohnende Mystifizierung zurückweisen und nicht einen Gegen-Mythos, basierend auf einer moralischen Verurteilung des Fortschritts, erschaffen.
Obwohl die Idee einer einzelnen Zivilisation falsch ist, gibt es einige Grundcharakterzüge welche alle Zivilisationen geteilt haben. Diese können als definierende Qualitäten von Zivilisation verstanden werden. Sie können Grundverständnisse liefern, die nützlich sind um klarer zu machen was eine revolutionäre Zivilisationskritik bedeuten könnte.
Zivilisation kommt von dem lateinischen Wort „civis“, was Stadtbewohner*in bedeutet. Demnach ist Zivilisation eine Art zu Leben, die auf dem Bewohnen von Städten basiert – auf dem Bewohnen von Gebieten mit konzentrierter menschlicher Bevölkerung, getrennt von den Gebieten, von denen diese Bevölkerung ihre Versorgung bezieht. Eine revolutionäre Zivilisationskritik würde folglich die sozialen Beziehungen untersuchen wollen, die Städte erschaffen und die durch Städte erschaffen werden.
Aber die Existenz dessen, was als Stadt in Erscheinung tritt, ist, in sich selbst, nicht genug um Zivilisation zu definieren. Lasst uns also überlegen was geschah als die ersten Zivilisationen aufkamen. Es wird allgemein zugestimmt, dass sich die ersten Zivilisationen vor acht- bis zehntausend Jahren zu entwickeln begannen. Aber was begann sich tatsächlich zu entwickeln? Die Beweise, die wir haben, zeigen, dass bestimmte Spezialisierungen begannen sich in eine Anzahl von ineinander greifenden sozialen Institutionen zu kristallisiern: dem Staat, dem Eigentum, der Familie, der Religion, dem Gesetz, der Arbeit (als eine vom Leben getrennte Tätigkeit), etc. Dieser Prozess fand statt durch die Entfremdung der Leute von ihrer Fähigkeit ihr eigenes Leben individuell und kollektiv nach ihrem eigenen Willen zu erschaffen. Diese entfremdete Kreativität kristallisierte sich als konzentrierte Macht heraus und Reichtum zentrierte sich in den Institutionen der Gesellschaft. Basierend auf der Enteignung der großen Mehrheit, sind diese Institutionen die Repräsentationen der Klassenbeziehungen. Mit dem Aufkommen dieses institutionellen Rahmenwerks hörte die Gesellschaft auf ein Netz von sozialen Beziehungen zwischen Individuen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Verlangen zu sein und wurde stattdessen zu einem Netzwerk determinierter, institutionalisierter Beziehungen, das über den Menschen steht und in welches sie passen müssen. Somit wurden nicht mehr länger bewusst gemeinsam Techniken entwickelt, die dazu dienen die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen. Stattdessen werden technologische Systeme mit dem Ziel entwickelt, die institutionalisierte soziale Ordnung zu reproduzieren, die selbst eine bürokratische Technologie ist um soziale Beziehungen zu mediieren. Die Bedürfnisse und Wünsche der Individuen sind diesem Rahmenwerk untergeordnet, und die Individuen selbst werden zu Zahnrädern in der sozialen Maschine. Ihr Überleben wird von dieser sozialen Maschine abhängig gemacht, eingeschlossen in einer fortlaufenden Knechtschaft, welche nur durch einen radikalen Bruch mit der sozialen Ordnung, einer destruktiven Umwälzung der existierenden sozialen Beziehungen gebrochen werden kann, die die Möglichkeit für die Erschaffung eines neuen gemeinsamen Lebens eröffnet.
Wenn ich von Zivilisation spreche, meine ich dieses Netzwerk von Institutionen welches unsere Leben beherrscht.
Was ist eine revolutionäre Zivilisationskritik im Bereich unserer Ideen?
Wenn Zivilisation das Netzwerk der Institutionen das unser Leben definiert und beherrscht ist, dann ist eine revolutionäre Zivilisationskritik, auf theoretischer Ebene, eine Untersuchung der Natur dieser Institutionen. Sie untersucht den Staat, die Ökonomie und die technologischen Systeme die sie entwickeln um unsere Leben zu kontrollieren. Sie untersucht die zunehmende Prekarität unserer Existenz auf allen Ebenen. Sie ist eine Klassenanalyse, die auf die Zerstörung dieser Gesellschaft abzielt, und somit ist ihre Basis zuerst und vor allem unser Leben, hier und jetzt in dieser Welt.
Unglücklicherweise scheitert vieles von dem, was heutzutage als Zivilisationskritik durchgeht daran revolutionär zu sein, weil es sich eine andere Basis wählt, als unsere eigene Konfrontation mit der sozialen Realität, die unsere Leben raubt, und unseren eigenen Verlangen unsere Leben zurückzunehmen. Diese anderen Basen scheinen ein Modell für eine zukünftige nicht-zivilisierte Gesellschaft oder für gegenwärtige Aktivität zu liefern; oder sie scheinen eine solide moralische Basis zu liefern, auf die man bestehen soll. Auf jeden Fall können solche Basen keiner revolutionären Kritik dienen. Lasst uns ein paar dieser Ideen ansehen.
Von einem revolutionären Blickwinkel ist Biozentrismus vollkommen nutzlos. Er ist eine von seiner Wurzel her moralische Perspektive. Er beginnt mit dem Leben als Abstraktion, das über uns selbst steht und dem wir zu dienen haben. Obwohl er manchmal mit einer wissenschaftlichen Basis präsentiert wird (in der ökologischen Biologie), ist er essentiell eine metaphysische/moralische Perspektive. Biozentrismus steht immer dem Anthropozentrismus gegenüber, dem angeblichen „Menschen-zentrierten“ Denken. Anthropozentrismus ist eigentlich nur nur ein anderer Name für Humanismus. Der Humanismus ist die Ideologie, die von einer abstrakten Konzeption des Menschen ausgeht und diese als ein Ideal über uns stellt, nach der wir streben sollen. Seine Praxis im sozialen Bereich basiert auf dem Konzept von Rechten, welche die Gesellschaft zu schützen hat. In der Realität fordert der Biozentrismus den Humanismus nicht an seinen Wurzeln heraus. Er strebt einfach nur danach die moralischen Werte des Humanismus auszudehnen um alles Leben zu inkludieren, nicht nur die Menschen. Leben, nicht nur das der Menschen, ist das Ideal, das wir hochzuhalten haben. Im sozialen Bereich strebt der Biozentrismus lediglich nach der Ausdehnung von Rechten und des Schutzes für das Nicht-Menschliche, ohne die Wurzeln der sozialen Ordnung herauszufordern. Das erklärt, wieso so viele Tiefenökolog*innen[4] soviel Arbeit in Gerichtsprozesse und Gesetzgebung stecken, um diese oder jene Spezies oder Fläche der Wildnis zu beschützen. Diese Praxis entlarvt die nicht-revolutionäre Natur ihrer Perspektive. Fakt ist, da sie auf einer repräsentativen Praxis basiert (ökologische Aktivist*innen vertreten die Erde und das Leben vor dem Gericht und dem Gesetz), ist sie von der Wurzel her ein politischer und reformistischer Standpunkt. Eine revolutionäre Zivilisationskritik wird diese Ideologie komplett verweigern.
Eine Umweltperspektive kann nützlich sein um die Schädlichkeit der Institutionen, die unsere Leben kontrollieren, zu entlarven. Die notwendige technologische Entwicklung um die soziale Kontrolle aufrecht zu erhalten und die Expansion des Kapitals verursachen umfassenden Schaden. Ein wichtiger Aspekt unserer gegenwärtigen prekären Existenz ist dieser zunehmende Schaden, der, die Frage aufwerfend wie viel mehr wir ertragen können, unseren Körpern und unseren Lebensräumen angetan wird. Aber die Schädlichkeit dieser Gesellschaft zeigt sich nicht nur in den verschiedenen physischen Giftstoffen, die wir gezwungen sind aufzunehmen. Wenn das der Kern des Problems wäre, wäre es in der Tat einfach eine Frage für die „Expert*innen“ oder eine die durch Gesetze geregelt werden könnte. Die fundamentale Schädlichkeit dieser Gesellschaft liegt in den sozialen Beziehungen die sie aufzwingt. Diese sozialen Beziehungen machen uns abhängig von einem massiven technologischen System, über das wir keine Kontrolle haben. Und der physische Schaden dieses Systems – die Vergiftung der Flüsse, die Verstrahlung des Essens, die überall stattfindende Verbreitung von toxischen Chemikalien und genetisch verändertem Material – ist seiner Existenz integral. Folglich kann eine Kritik, die von der Umwelt ausgeht, nur dann revolutionär werden, wenn sie Teil einer totalen Kritik an den sozialen Beziehungen ist, welche uns von dieser toxischen Megamaschine abhängig machen. Sie kann ein Werkzeug liefern in der Entwicklung dieser Kritik, aber sie ist nicht in sich selbst adäquat.
Ich hab mich nie selbst als Primitivist bezeichnet, da ich meine Zivilisationskritik nicht auf reale oder vermutete Charakterzüge von sogenannten „primitiven“ Gesellschaften stütze. Die Ideologie eines vergangenen goldenen Zeitalters ist bestenfalls reine Spekulation. Wir wissen nur sehr wenig über prähistorische Menschen und wie sie gelebt haben, und auch die neuste Literatur in diesem Feld hat sich von einigen der idyllischen Bilder wegbewegt, die noch vor ein paar Dekaden unter Prä-Historiker*innen beliebt waren. Wir können mehr über sogenannte moderne „primitive“ Menschen in den Schriften von Anthropolog*innen, Ethnolog*innen und verschiedenen gebildeten Leuten lesen, die unter ihnen verkehrt sind. Und bestimmt können diese einige nützliche Werkzeuge liefern, um die Zivilisationen und die menschlichen Möglichkeiten zu untersuchen. Aber es ist notwendig anzuerkennen, dass dieses Wissen immer spekulativ, partiell und voreingenommen ist, dass es keine Basis für eine revolutionäre Zivilisationskritik liefert. Primitivismus als eine Ideologie idealisiert das sogenannte „Primitive“. Einige zeitgenössische Primitivist*innen versuchen diese Begrenzung zu umgehen, indem sie sich auf eine vermeintlich „ursprüngliche Natur“ berufen, die jedem Menschen inhärent sei, anstatt auf frühere oder gegenwärtige primitive Menschen. Auch wenn sie auf diesem Weg der Anschuldigung einer heuchlerischen Verwendung der Wissenschaft für ihre eigenen Nutzen vermeiden mögen, können sie dem Problem, ihre Perspektive auf ein äußeres Ideal zu stützen, nicht entkommen. Tatsächlich haben diese Primitivist*innen die humanistische Ideologie einfach mit einer Verdrehung wiederbelebt: die „ursprüngliche“ Natur des Menschen wird zum „wahren“ Selbst, das wir entdecken und nach welchem wir streben müssen. Als eine Form des Humanismus ist diese Perspektive in ihrer Essenz moralisch. Sie versucht eine Basis für die Revolution ohne Klassenkampf zu liefern, indem sie diesen durch den „ursprünglichen Krieg“ ersetzt, aber da letzterer seine Basis in unserer angeblichen „ursprünglichen Natur“ hat, und nicht in unserer tatsächlichen Konfrontation mit den Bedingungen, die uns die gegenwärtige Welt aufzwingt, ist es schlicht ein moralisches Ideal wie die Revolution stattfinden „sollte“. Für Montaigne und Rousseau blieb diese Idealisierung ein poetisches Mittel um die Übel der Zivilisation zu beklagen, aber für manche modernen Primitivist*innen wird es zu einem moralischen Ideal, einem Modell für eine postzivilisatorische Art zu leben und manchmal sogar zu einem Konzept was eine antizivilisatorische Praxis hier und heute sein sollte. Als solche ist sie für eine revolutionäre Zivilisationskritik nutzlos. Es verbleibt eine bloße moralische Kritik, die auf abstrakten Konzepten von Gut (primitiv) und Böse (zivilisiert) basiert. Soziale Beziehungen verschwinden in dieser Idealisierung und es ist einfach von Ideen und Praktiken abgelenkt zu werden, die komplett außer Reichweite der Realitäten sind, denen wir gegenüberstehen.
Das könnte der Grund sein, warum einige Primitivist*innen sogar soweit gehen, das Konzept von Revolution abzulehnen und es bevorzugen sich auf einen kommenden Kollaps der Zivilisation „vorzubereiten“, indem sie „primitive Fähigkeiten“ auf teuren Schulen erlernen, die alleine für diesen Zweck gegründet wurden. Es scheint, dass sie sich diesen Kollaps auf ähnliche Weise imaginieren, wie die Vorstellungen der „Ghost-Dance“-Bewegung unter Native Americans des späten 19ten Jahrhunderts, wo die zivilisierte Realität einfach abgeschält wird, um unverzüglich eine makellose, unversehrte „Wilde Natur“ zu enthüllen. Wie die Prepper*innen haben diese Primitivist*innen die Möglichkeit aufgegeben, dass Menschen die Geschichte selbst in die Hand nehmen, um die Ordnung der Herrschaft zu zerstören und die sozialen Beziehungen radikal zu transformieren. Stattdessen träumen sie von der Apokalypse, nach der wenige fähig sein werden wieder im Garten Eden ihrer imaginierten „primitiven“ Welt zu leben.
Würde es tatsächlich zu solch einem Kollaps kommen, würde dieser mit großer Wahrscheinlichkeit einen langwierigen Prozess zur Folge haben, der einen massiven Krieg seitens der verschiedenen Herrschenden dieser Welt um ihre Macht um jeden Preis zu erhalten, involvieren würde, und eine unmittelbare Konfrontation mit der Zerstörung der die natürliche Umwelt ausgesetzt war. Ich habe kein Verlangen mich auf einen solchen Kollaps „vorzubereiten“, ich sehe es eher als eine der tristen Möglichkeiten, die diese Gesellschaft anbietet. Ich würde viel eher die Anstrengung darauf verwenden die soziale Ordnung durch revolutionäre Bemühungen bewusst zu demontieren. Eine bewusste revolutionäre Demontage der Zivilisation würde eine bewusste Konfrontation mit den Realitäten, die die zivilisierte Realität geschaffen hat, involvieren und eine Erkundung von Wegen um wirklich lebenswerte Umwelten wieder herzustellen.
Natürlich sind die Primitivist*innen, die die Revolution offen ablehnen, nur sehr wenige. Nichtsdestotrotz denke ich, dass sie diejenigen sind, die der Logik des Primitivismus am Konsequentesten folgen. Die Idealisierung dessen was war, führt konsequenterweise entweder zu einer passiven Bewunderung (wie bei Montaigne und Rousseau) oder zu einer Imitation, jedoch nicht zu einer radikalen und zerstörerischen Konfrontation mit dem Bestehenden.
Wie dem auch sei, es gibt eine sehr signifikante Lektion, die wir durch das Untersuchen, von dem was wir über nicht-zivilisierte Menschen wissen, lernen können. Zivilisation hat sich selbst als homogenisierender Prozess gezeigt. Das wird besonders jetzt klar, da eine einzige Zivilisation den ganze Globus dominiert. Das könnte einen sogar dazu führen, an eine festgelegte menschliche Natur zu glauben. Wenn wir uns das jedoch anschauen, was wir über nicht-zivilisierte Menschen wissen, wird deutlich, dass es endlose Arten von Wegen gibt, wie Menschen in dieser Welt leben können, endlose Möglichkeiten sich mit sich selbst, miteinander und mit der umgebenden Umwelt in Bezug zu setzten. Deterministische Spekulationen haben hier keinen Platz. Stattdessen können die sehr realen Möglichkeiten für revolutionäre Transformation gesehen werden, wenn klar wird, dass die soziale Welt in der wir leben, nicht immer bestand. Jedoch werden sich unsere Möglichkeiten im Laufe unseres Projekts im Hier und Jetzt öffnen, deshalb kann das „Primitive“ nicht als Modell, sondern einfach nur als ein Werkzeug unter vielen benutzt werden um ein klareres Verständnis von der Natur der Zivilisation zu erlangen.
Einer der Bereiche der theoretischen Untersuchung, der sich unter antizivilisatorischen Anarchist*innen entwickelte, ist die Untersuchung der Ursprünge. Diese Untersuchung wirft sicherlich viele interessante Fragen auf. Sie eröffnete aber auch die Möglichkeit in Ideologien abzurutschen. Das erste, was wir im Kopf behalten müssen, wenn wir dabei sind die Ursprünge zu untersuchen, ist, dass wir keine Antworten finden können. Dies kann nur ein Gebiet für Spekulationen und das Aufkommen von Fragen sein. Ansonsten verwandelt es sich in eine Suche nach der „Erbsünde“, nach welcher der Fall in die Zivilisation unvermeidlich war, und wir sind auf dem Pfad eines Determinismus, der Erlösung benötigt, nicht Revolution.
Die Untersuchung der Ursprünge wurde hauptsächlich von John Zerzan in den 1980ern begonnen. Es war ein Versuch sich die möglichen Quellen der Entfremdung anzusehen, welche den Aufstieg der Zivilisation ermöglichten. Vom Beginn an war eine der Schwächen von Zerzans Untersuchungen das Fehlen einer klaren Erklärung, was er mit Entfremdung meinte. Dieses Fehlen an Klarheit infizierte jene Anarcho-Primitivist*innen, die Zerzans Schriften als eine theoretische Hauptquelle nahmen. Ich verstehe Entfremdung als eine Trennung unserer Existenz, von uns selbst, durch ein System von sozialen Beziehungen, das uns unserer Fähigkeit beraubt, unsere Leben nach unseren eigenen Willen zu erschaffen, um unsere Energie dazu zu verwenden, das zu produzieren und zu reproduzieren was nötig ist, um getrennten, zentralisierten Reichtum und die Macht zu erhalten. Was mir entfremdet ist, ist das was ich nicht als mein Eigen genießen kann. Entfremdung, in diesem Sinne, kann nicht durch eine Idee oder eine Art zu Denken ausgelöst werden. Ihre Quelle muss in den sozialen Beziehungen liegen. Zeitweise scheint es, als ob Zerzan Entfremdung auf diese Art benutzen würde, aber normalerweise ist er weitaus abstrakter, wenn er von der menschlichen Entfremdung von der Natur in einem quasi mystischen Sinne spricht. Und diese letztere Konzeption scheint im anarcho-primitivistischen Milieu vorherrschend zu sein. Es scheint so, als betrachten sie die Natur als ein metaphysisches Wesen, zu dem die Menschen einst eine intime Verbindung gepflegt hatten und von der sie dann getrennt wurden. Das ist eine deutliche Parallele zur christlichen Theologie, nur dass Gott durch eine vereinigte Natur ersetzt wurde. Die Idee des „Falles in die Zivilisation“ (einen Begriff, den Zerzan häufig benutzt), folgt logischerweise daraus. Es erklärt auch die häufigen Behauptungen, dass es uns in dieser Welt unmöglich ist, nicht-entfremdete Momente zu erleben – demzufolge ist es eine gefallene Welt. Anstatt irgendwelche adäquaten Ideen anzubieten, wie gefallene Menschen in einer gefallenem Welt Revolution machen können, um diesen Fall rückgängig zu machen, finden Zerzan, John Connor und andere Primitivist*innen einen seltsamen Gefallen daran, den sozialen Zerfall der modernen Welt aufzuzeigen, als ob das, in sich selbst, der Weg zur Zerstörung der Zivilisation wäre. Der Tiefpunkt all dessen war der Artikel von Steve Booth: „Die Irrationalist*innen“. Booth, unfähig weiter entlang dieses Weges zu gehen, gab jegliche Zivilisationskritik komplett auf und entschied sich stattdessen ein Unterstützer der britischen Grünen Partei zu werden. Zerzan selbst sucht Zuflucht im Missionarismus – er spricht mit Jounalist*innen der New York Times, Spin und verschiedenen anderen Mainstream-Publikationen, tritt in der Art Bell’s Radio Show und in 60 Minutes auf und geht zu „Nachhaltigkeits-“und Umweltgesetzeskonferenzen, um seine Botschaft zu präsentieren. Dass Zerzan wirklich jegliche revolutionäre Kritik mit dieser „Praxis“ einem Kompromiss unterworfen hat, ist irrelevant, da wir ja alle Kompromisse in dieser Welt eingehen müssen. Nur im Paradies, das entsteht wird, wenn die Zivilisation fällt, können wir den Kompromissen entkommen. Somit kann Zerzans Revolution nur als Erlösung von einer gefallenen Welt verstanden werden. Aber wer oder was ist der Erlöser?
Tatsächlich glaube ich, dass es Zerzans theologische Art sein könnte, mit der Frage der Entfremdung umzugehen, die seine eigenen Möglichkeiten beschränkt seine Untersuchungen des Ursprungs auf eine nützliche Weise zu entwickeln. Obwohl Zerzan wichtige theoretische Gebiete geöffnet hat, indem er Sprache, Zeit, symbolisches Denken, etc. in Frage stellt, scheiterte er darin, daraus Nutzen zu ziehen. Anstatt die Natur der Sprache, der Zeit oder des symbolischen Denkens als soziale Beziehungen zu untersuchen und sie auf heute zu beziehen, hat er seine ersten Erklärungen als finale Antworten akzeptiert und damit begonnen den selben Refrain des „das alles muss weg“ zu wiederholen und andere nach ihrem Befolgen, von dem was zu seiner Linie wurde, zu beurteilen. Plötzlich fand er einen Heiligen (und potentiellen Erlöser) im Unabomber[5], seine Ideologie verwurzelte sich so fest, dass er seine Ideen nicht länger entwickeln konnte; er konnte sie nur noch predigen.
Natürlich trägt einen der Versuch, die Ursprünge zu untersuchen in trügerische Gewässer. Man muss fähig sein eine notwendige Kontingenz von einer Ursache zu unterscheiden. Beispielsweise ist es wahr, dass das Aufkommen von Zivilisation kontingent mit der Existenz von Sprache ist. Aber das heißt nicht, dass Sprache unausweichlich zu Zivilisation führt. Die Existenz von Vorderlappen im Gehirn ist genauso notwendig für den Aufstieg der Zivilisation, verursacht sie aber nicht. Es ist die Fähigkeit zwischen notwendigen Kontingenzen und Ursachen zu unterscheiden, welche es uns ermöglicht, dieser Art des oben beschriebenen Determinismus zu entkommen.
Es ist außerdem einfach, auf der Suche nach den ursprünglichen Ursachen, soziale Beziehungen zu verdinglichen. Zerzan hat genau das mit der Zeit, der Sprache und dem symbolischen Denken getan. Diese zur Quelle unseres Problems zu erklären heißt zu vergessen, dass sie in den sozialen Beziehungen entstehen, in den realen oder empfundenen Bedürfnissen und Wünschen, die sich unter den Menschen entwickeln. Aber wir können nicht wissen welche diese waren; wir können nur spekulieren und für manche ist das nicht befriedigend. Was wir tun können, ist, die sozialen Beziehungen untersuchen, die die Sprache, die Zeit und das symbolische Denken heute umgeben. Solch eine Analyse ist besonders interessant, da sie zeigt, dass das Kapital und sein technologisches System, in einem gewissen Sinne, dabei sind, Sprache und Zeit zu zerstören. Die Zerstörung der Sprache weltweit, die Degradierung individueller Sprachen und das Verschwinden der Fantasie und mit ihr die Fähigkeit poetisch zu sprechen und leben, sind signifikante Aspekte der Realität, der wir gegenüberstehen. All das kann auf die Bedürfnisse der herrschenden Ordnung zurückgeführt werden, ihrer technologischen Entwicklung, der Herrschaft der Massenmedien und des Internets über die Kommunikation. Dies bedarf einer Analyse, die weitaus komplexer ist, als Deklarationen, dass Sprache Entfremdung verursacht. Es ist heute ziemlich offensichtlich, dass uns der Verlust der Sprache nicht weniger entfremdet oder weniger zivilisiert macht, sondern uns einfach weniger dazu befähigt miteinander zu kommunizieren und irgendwelche Verlangen auszudrücken, die außerhalb der erlaubten Kanäle der herrschenden Ordnung stehen.
In der selben Weise raubt uns die Welt des Kapitals, seine Technologie und seine Massenmedien, unsere Zeit. An ihrer statt, wird uns eine endlose Gegenwart gegeben, aber keine paradiesische wie Zerzan es sich vorstellt. Es ist eher eine ewige Gegenwart voll von Routinen, die sich Tag für Tag wiederholen und die in keinem direkten Verhältnis zu unseren eigenen Bedürfnissen und Wünschen stehen, die aber von uns verlangt werden um das Geld zu verdienen, das wir brauchen um weiter auf dem Standard zu überleben, den wir gewohnt sind. Das ist gekoppelt an die mediale Portraitierung von Ereignissen rund um die Welt als unzusammenhängende Momente ohne Vergangenheit oder Zukunft. Die gegenwärtige soziale Ordnung stiehlt die Vergangenheit als eine lebendige Realität, welche wir auf bedeutungsvolle Weise nutzen können und die Zukunft als einen Ort voller Möglichkeiten und Träume, und lässt uns einzig mit einer verarmten Gegenwart der täglichen Versklavung zurück. Auch hier ist eine tiefere Analyse der gegenwärtigen sozialen Beziehungen nötig, welche es uns erlaubt, unsere Geschichte und unsere Träume wieder anzueignen, um sie als Werkzeug gegen diese Gesellschaft hier und jetzt zu benutzen.
Natürlich bezieht sich der Primitivismus selbst auf eine Vergangenheit, aber es ist eine mystifizierte Vergangenheit, die als Ideal über uns steht, keine konkrete Vergangenheit des revolutionären Kampfes gegen die herrschende Ordnung. Einige Primitivist*innen schließen letztere aus, da jene im Kampf keine bewusste Zivilisationskritik hatten. Diese Zurückweisung macht eine kritische Begegnung mit diesen vergangenen Kämpfen jedoch unmöglich. Und eine kritische Begegnung mit der revolutionären Vergangenheit ist ein zu nützliches Werkzeug, um es im Kampf gegen diese zivilisierte Welt aufzugeben. Jeder dieser Kämpfe kann als Teil eines nicht zu Ende geführten sozialen Krieges gesehen werden, in dem das Wissen über das Ziel und den Feind von Mal zu Mal klarer wird, aber nur dann, wenn wir kritisch mit der Vergangenheit ringen anstatt nach einer mystischen Vergangenheit zu suchen um sie als Ideal zu nutzen. Es ist besonders wichtig, zu dieser Zeit, in der sich die Zivilisation selbst eine historische Amnesie schafft, dass wir uns weigern ihr zu unterliegen und damit weitermachen die revolutionäre Geschichte als Waffe gegen die herrschende Ordnung zu ergreifen.
Kurz gesagt, hat für eine revolutionäre Zivilisationskritik, die Untersuchung der Ursprünge nur dann einen Nutzen, als dass sie Gebiete der kontinuierlichen Infragestellung aufwirft. Die fundamentalen Konzepte, die sie in Frage stellt, müssen im Rahmen der heutigen sozialen Beziehungen untersucht werden, damit wir wissen wo die Konfliktpunkte existieren und verstehen was auf dem Spiel steht.
Eine weitere Konzeption, die in der Entwicklung einer Zivilisationskritik verwendet wurde, ist die der „Wildheit“. Ich bin unter jenen, die beim Untersuchen der Bedeutung von Zivilisation und wie eine Revolution gegen sie aussehen könnte, von diesem Konzept Gebrauch gemacht haben. Es besteht jedoch die Gefahr für das Konzept der Wildheit gezähmt zu werden – nämlich, wenn es sich zu einer konkreten Idee kristallisiert, was wir sein und tun sollten. Wenn ich das Konzept von Wildheit bei meinen kritischen Auseinandersetzungen mit der Natur, der Zivilisation und der Revolte dagegen gebraucht habe, dann genau weil, im Gegensatz zum „primitiven“, die menschliche Wildheit eine Unbekannte ist. Das Konzept liefert keine Antworten oder Modelle, sondern wirft Fragen auf. Seine Kristallisation in ein Modell, nimmt die Form einer Gleichsetzung mit der Lebensweise von Jäger*innen und Sammler*innen an, und/oder den vermenschlichten Eigenschaften von nicht-menschlichen Tieren (wie Instinkten). Die Idee einer inhärenten „ursprünglichen“ menschlichen Natur fällt genau in diese Falle, ein Ideal zu definieren anstatt Fragen aufzuwerfen wie wir unsere Leben wieder aneignen können. Die Wildheit als ein Modell zu definieren, verwandelt sie in einen moralischen Wert, der über uns und unseren täglichen Kämpfen steht. In dieser Form ist sie als revolutionäres Werkzeug unbrauchbar. Nur als eine Spannung gegen die zivilisierte Realität, die uns aufgezwungen ist, das heißt nur als ein ständiges theoretisches und praktisches Infragestellen, kann die Wildheit einen Nutzen für die Entwicklung einer revolutionären Zivilisationskritik haben.
Eine revolutionäre Zivilisationskritik ist eine Kritik der sozialen Beziehungen der Zivilisation. Das Aufkommen der Zivilisation ist faktisch das Aufkommen der Zentralisation und Institutionalisierung von Macht und Reichtum. Beginnend mit der Enteignung eines großen Teils der Menschen – mit dem Raub ihrer Fähigkeit, ihr Leben nach ihren eigenen Willen zu erschaffen – werden uns Beziehungen der Herrschaft und Ausbeutung, das heißt Klassenbeziehungen, aufgezwungen. Mit der Einrichtung der Klassenbeziehungen beginnt der Klassenkampf. Im Grunde ist es der Kampf der Enteigneten sich ihr Leben zurückzuholen und der Kampf der herrschenden Ordnung ihre Herrschaft zu erhalten.
Wenn wir mit unserer Zivilisationskritik von dieser Basis beginnen, können wir sehen, dass der Kampf gegen die Zivilisation von der Wurzel her ein Klassenkampf und ein egoistischer Kampf ist. Seine Grundlage liegt nicht in dem Verzicht, sondern in dem Projekt der Wiederaneignung – zurückzustehlen was uns genommen wurde. Die Megamaschine des industriellen, kapitalistischen Staates ist ein Moloch, für den jede*r von uns als Individuum nichts als Futter ist. Die sozialen Beziehungen ihres institutionellen Rahmenwerks sind in sein technologisches System eingebaut, das macht jede Vorstellung von der Selbstverwaltung dieses massiven Apparates absurd. Der Punkt ist also sie zu zerstören, nicht für die „Erde“, nicht für das „Leben“ oder die „wilde Natur“, sondern für uns selbst, um frei zu experimentieren mit den unzählbaren Möglichkeiten des Sich-in-Beziehung-setzens und der Erschaffung unserer Leben ohne Herrschaft jedweder Art, für die Entdeckung des kollektiven Projekts der individuellen Selbstrealisierung. Deshalb wird eine revolutionäre Zivilisationskritik ihre Basis in einer kommunistischen und in einer egoistischen Kritik des Existierenden haben – in anderen Worten, sie wird fundamental anarchistisch sein.
Und wie könnte sie in der Praxis aussehen?
Eine revolutionäre Zivilisationskritik stammt von dem Wunsch nach einer Welt ab, in der wir, menschliche Wesen, nach unseren eigenen Willen, unsere Leben zusammen als bewusste, fortlaufende Projekte erschaffend, leben können. Sie hat keinen Platz für die Misanthropie, die für viele biozentristische Ideologien zentral ist und manchmal Umweltperspektiven befällt. Sie erkennt weder primitivistische Praktiken noch „Verwilderung“ als Wunderheilmittel gegen die Schädlichkeit der Zivilisation an. Obwohl primitive Fähigkeiten nützlich sein können und Methoden, um wilde Gebiete zu heilen und auszuweiten nötig sind, sind sie kein praktischer Ausdruck revolutionärer Zivilisationskritik.
Fakt ist, dass wir nicht zurück können. Nordamerika hat immer noch ziemlich große Regionen der Wildnis, wovon einige, für eine sehr kleine Anzahl, menschlich bewohnbar scheinen. Aber es kann unmöglich die Hunderten von Millionen Menschen dieses Kontinents ernähren. In einem Großteil der restlichen Welt ist die Wildnis verschwunden oder wurde zerstört. In Europa und in den größten Teilen von Asien beispielsweise, ist ein Leben als Jäger*in und Sammler*in für niemanden mehr eine Option. Der Weg zurück ist versperrt, und weil der Weg vorwärts uns deutlich Richtung zunehmender Beherrschung und Desaster führt, ist klar, dass wir diesen Weg verlassen müssen um woanders hinzugehen.
Deshalb fordert eine revolutionäre Zivilisationskritik von uns, alle bekannten Pfade hinter uns zu lassen. Es gibt keine einfachen Antworten oder Modelle denen wir folgen können. Aus einer anarchistischen Perspektive, die keinen Platz für Führer*innen oder ideologische Dogmen lässt, sollte das nicht als etwas Negatives gesehen werden. Tatsächlich bringt uns das zurück in die Gegenwart, zurück zu unseren Leben und Kämpfen, in die Welt der wir gegenüber stehen.
Schauen wir uns einmal diese Welt an. Eine einzige Zivilisation – die des Staats und des Kapitals – beherrscht sie. Trotz totalitärer Tendenzen ist diese Herrschaft nicht absolut. Es existieren andere Wege des Seins und des Sich-miteinander-in-Beziehung-setzens, an ihren Rändern und außerhalb von dem was für sie sichtbar ist. Ihre Ausbreitung über den Globus hat sie dazu gezwungen, Methoden der sozialen Reproduktion und Kontrolle zu entwickeln, die in ein technologisches und bürokratisches Netzwerk dezentralisiert sind. Weil die Kontrolle und die Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehungen in dieses Netzwerk eingebettet sind, kann nicht gesagt werden, dass irgendjemand, nicht einmal die herrschende Klasse selbst, es wirklich kontrolliert. Es handelt um uns zu kontrollieren, nicht nur durch die Überwachung unserer Aktivitäten, sondern – und das ist viel wichtiger – indem es uns von ihm abhängig macht und dadurch das es innerhalb sehr eingeengter Parameter determiniert, wie wir mit ihm interagieren können. Kurzum, es macht uns zu Zahnrädern innerhalb seines technologischen Rahmenwerks. Deshalb macht das Gerede von der Aneignung der gegenwärtigen Produktionsmittel, für jedweden Zweck, außer um sie zu zerstören, keinen Sinn. Sie sind ein Mittel der Herrschaft und der Kontrolle, nicht der Erschaffung dessen was wir brauchen und begehren. Die Knoten dieses Netzwerkes beinhalten Computersysteme, Überwachungskameras, Kreditkarten, Pässe und so weiter. Dieses Netzwerk scheint überall zu sein, aber es ist nur dünn ausgebreitet. Dadurch lässt es haufenweise Risse zu und das macht es sehr fragil. Eines der Ergebnisse dieser Fragilität ist, dass immer mehr und mehr Menschen durch die Risse fallen und sich ohne einen Platz innerhalb dieser Gesellschaft wiederfinden. In die Armut, Immigration, Obdachlosigkeit und Illegalität gezwungen, haben diese Unerwünschten beim Agieren gegen diese Gesellschaft wenig, falls überhaupt irgendetwas, zu verlieren. Sie sind eine Klasse von Barbar*innen innerhalb der Pforten dieser gewaltigen, zivilisierten Todesmaschine. Selbst die, die nicht durch die Risse fallen, finden ihre Existenz zunehmend auf allen Ebenen prekär vor. Falls sie sehen, was sie mit denen, die durch die Risse gefallen sind, gemeinsam haben, könnte sich das als katastrophal für die herrschende Ordnung erweisen. Und natürlich gibt es diejenigen, die sich, wegen der relativen Unsichtbarkeit die es ihnen garantiert, entscheiden innerhalb dieser Risse zu leben, was ihnen größere Freiheit darüber lässt bedeutende Aspekte ihres Lebens selbst zu bestimmen. Diese Menschen haben auch jeden Grund gegen diese Megamaschine zu kämpfen. Die Meister dieser Welt sind sich all dessen bewusst und haben in den letzten Jahren in einer offenen Weise heftige Präventivrepression praktiziert.
Erhebungen und Revolutionen sind nicht das Produkt von radikalen Ideen[6], obwohl solche Ideen durchaus eine signifikante Rolle in der Art und Weise wie sich eine Erhebung entwickelt, spielen können – zumindest wenn sie in einer relevanten und revolutionären Weise erschaffen und ausgedrückt werden. Aber es ist unsere Wut über die Bedingungen der uns auferlegten Existenz, kombiniert mit dem kompletten Fehlen eines Vertrauens an die Fähigkeit und die Bereitschaft, weder der herrschenden noch der oppositionellen Institutionen, sich zu unseren Gunsten zu verändern, welche die selbst-organisierte Revolte als wilde Streiks, Blockaden von Straßen und Docks, Platzbesetzungen, Sabotagen, Vandalismus, Krawallen und Aufständen aufflammen lassen kann. In diesen Geschehnissen und Aktionen können wir das Verlangen sehen, uns unser Leben durch direkte Konfrontation mit dieser Zivilisation, welche dadurch wie sie hier und heute existiert uns das Leben raubt, direkt zurückzunehmen. Diese Kämpfe sind direkte (wenn auch meist unbewusste) Angriffe gegen den Raub unseres Lebens. Das ist der Grund wieso sie beides ausdrücken, den Klassenkampf und den Kampf gegen die Zivilisation, wie wir sie kennen.
Aber was ist dann mit der bewusst entwickelten revolutionären Zivilisationskritik? Wie drückt sie sich in der Praxis aus? Jede*r von uns trifft in unserem täglichen Leben auf Teile des Netzwerks der Kontrolle. An Gelegenheiten für Angriffe mangelt es nicht. Also ist das Problem wie wir Kompliz*innenschaften finden können, wie wir die schmalen Fäden der Revolte hier und dort entdecken und wie wir sie zusammen weben können. […][7]
Dabei ist es natürlich nicht nötig, darauf zu warten, dass andere einen Kampf beginnen. Unsere Leben wurden uns geraubt; wir wurden unserer Fähigkeit die Bedingungen unserer Existenz selbst zu bestimmen enteignet, und der Feind und seine Werkzeuge sind überall um uns herum. Also können wir unsere eigenen Kämpfe beginnen. Denkt an die Kabelschächte und die darin geführten Kabel, die Stromleitungen und Masten, die in der Erde verlegten Glasfaserkabel, die Funk- und Sendemasten, die Pipelines, die infrastrukturellen Knotenpunkte des Warenverkehrs. Denkt an die Forschungen in der Nanotechnologie, mit ihren erschreckenden Möglichkeiten die sie für das Eindringen der sozialen Kontrolle direkt in unsere Körper eröffnet, all das passiert direkt vor unserer Nase… Die Angriffsziele sind nicht schwer zu finden.
Ich habe gesagt, dass eine revolutionäre Zivilisationskritik auf Klassenkampf basiert. Aber ich meine damit nicht einfach den Kampf einer Klasse gegen eine andere. In erster Linie meine ich den Kampf der Ausgebeuteten, der Enteigneten, der Proletarisierten gegen ihre Bedingungen als solche. Es liegt offensichtlich im Interesse der herrschenden Klasse die Klassengesellschaft zu erhalten, und somit den ganzen technologischen und bürokratischen Apparat, durch den sie operiert. Aber es liegt nicht in unserem Interesse, unsere Klassenposition zu erhalten. Solange wir ausgebeutet, enteignet, proletarisch bleiben, haben wir unser Leben nicht in der Hand. Die Wiederaneignung unserer eigenen Leben bringt unsere Existenz als eine Klasse zum Ende; dieser Kampf ist die kollektive Bewegung für individuelle Befreiung. Folglich sucht die Zivilisationskritik im Klassenkampf nach Methoden und Formen, die die Zerstörung der Klasse in sich tragen.
Klassenkampf in diesem Sinne zu verstehen, gibt uns ein paar Anhaltspunkte für seinen praktischen Ausdruck. Die spezifischen Ereignisse, die Kämpfe provozieren, unterscheiden sich stark und viele haben vielleicht weniger unmittelbare Ziele. Aber diejenigen unter uns, deren Aktivität von einer revolutionären Zivilisationskritik fundiert wird, und somit von dem Verlangen Klassenbeziehungen als solche zu zerstören, werden ausschließlich Methoden wählen, die klar den Kampf, unsere Leben wieder anzueignen, ausdrücken. Folglich werden wir uns jeder Repräsentation durch irgendwelche oppositionelle Organisationen wie Gewerkschaften und Parteien verweigern, um die Autonomie unserer Kämpfe zu bewahren. Wir werden Petitionen, Verhandlungen und Kompromisse mit den Führer*innen dieser Welt verweigern. Wir werden die Methoden, Zeiten und Orte unserer Aktionen selbst wählen. Und wir werden die Institutionen und die Maschinerie der Macht angreifen, die uns im Wege stehen. Unsere Kompliz*innen werden diejenigen sein, die sich entscheiden solche Methoden mit uns zu teilen und unsere Kämpfe werden sich mit denen Anderer verflechten, solange sie sich entscheiden diesem Pfad zu folgen und wir werden uns trennen, wenn unsere Methoden und Ziele unvereinbar werden.
Zusätzlich, da es im Kampf darum geht uns unsere Leben zurückzuholen und unsere Fähigkeit, es kollektiv, nach unseren eigenen Willen aufzubauen, wird er sich selbst durch eine ludditische Praxis ausdrücken. Am Beginn des industriellen Zeitalters erkannten die Ludditen, dass die Fabrik eine technologische Methode ist, um uns spezielle soziale Beziehungen der Ausbeutung und Kontrolle aufzuerlegen, und griffen sie an. In den 200 Jahren seitdem hat sich die Methodologie der Fabrik – die Entwicklung von ineinandergreifenden, voneinander abhängigen technologischen Systemen, in die die soziale Kontrolle und die spezifischen Beziehungen die den Bedürfnissen des Kapitals und des Staates entsprechen, eingebaut sind – über die gesamte soziale Landschaft ausgedehnt und unsere geraubten Leben sind als tote Arbeit in diesem Apparat gefangen und reproduzieren seine Herrschaft über uns. Um uns unsere Leben wieder anzueignen, braucht es die Zerstörung dieser Maschine, daher ist das Spiel Ned Ludds zentral für den praktischen Ausdruck einer revolutionären Zivilisationskritik.
Das Projekt, uns unser Leben wieder anzueignen, ist fundamental egoistisch. Die Tatsache, dass dieses Projekt kollektiv werden muss, um Erfolg zu haben, ändert das nicht. Das Ineinandergreifen von auf Affinität, Kompliz*innenschaft und revolutionärer Solidarität basierenden Kämpfen und Revolten, ist eine gute Beschreibung davon, was ein Verein von Egoist*innen sein könnte. Und der Egoismus gibt uns einen anderen Hinweis darauf, wie eine revolutionäre Zivilisationskritik in dieser Welt (besonders im Kontrast zu einer moralischen Kritik) handeln könnte. Jede moralistische und deterministische Ideologie zurückweisend, sucht der*die Egoist*in nicht nach Quellen der Erbsünde der Zivilisation um auf diese zu verzichten oder sie zu vermeiden. Stattdessen wirft er die Fragen auf: „Was kann ich als mein Eigen ergreifen, um es als Waffe zu benutzen um diese Gesellschaft zu zerstören? Was kann ich als Werkzeug benutzen, um das Leben, für das ich mich mit anderen entschieden habe, gegen diese Gesellschaft, zu erschaffen?“ Soziale Institutionen und das industrielle System tragen die Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehungen in sich. Sie sind nutzlos für das Projekt uns unsere Leben wieder anzueignen.
Allerdings ist es im Laufe des Kampfes gegen die zivilisierte Ordnung, dass wir die Werkzeuge und Techniken entdecken werden, die wir als unsere eigenen benutzen können, um unser Leben zu gestalten. Jede antizivilisatorische Kritik, die versucht die Möglichkeiten von vornherein festzulegen, ist eine moralische Kritik und bei der revolutionären Umwandlung von geringem Nutzen. Nichtsdestotrotz können wir über einige Charakterzüge, die diese Werkzeuge haben würden, Schlüsse ziehen. Zuallererst müssten die Benutzenden der Werkzeuge klar, auf einer unmittelbaren Ebene, die Konsequenzen ihres Gebrauchs verstehen. Jedes Werkzeug, das so komplex ist, dass seine Konsequenzen für die Benutzenden unsichtbar bleiben, und somit keine direkte Beziehung zu seinem Grund es zu benutzen hat, würde ein technologisches System konstituieren. Der Raub des Lebens wird in so einem System verkörpert, weil jene, die es gebrauchen, keine Kontrolle über das Ergebnis ihres Gebrauchs haben. Eher werden sie zu Opfern der Konsequenzen, welche jenseits ihrer Fähigkeit vorherzusehen liegen. Wir sehen die Resultate davon sowohl in der Umweltverwüstung, den verschiedenen Epidemien und anderen Bedrohungen für unsere Gesundheit um uns herum, als auch in der Verbreitung von Technologien der sozialen Kontrolle in jeden Winkel dieser Erde. Zweitens, müsste jede angewandte Technik rückgängig zu machen sein. Falls eine Technik sich als schädlich oder beherrschend herausstellt, müssen wir in der Lage sein sie unmittelbar abzulegen und mit anderen Mitteln unsere Aktivitäten fortzusetzen. Das schließt alle komplexen technologischen Systeme[8] aus, da sie selbst aus verschlungenen, voneinander abhängigen Techniken bestehen, die sich gegenseitig verstärken und auf der anderen Seite auch uns in, von dieser Maschinerien abhängige, Teile verwandeln.
Ich hoffe, dass ich, ohne ein Modell vorgestellt zu haben, einige Ideen geben konnte, wie eine revolutionäre Zivilisationskritik aussehen könnte, die in dieser Welt handelt. Natürlich kann es kein Modell für die gewaltsame Zerstörung der Welt der Herrschaft und der Zurückeroberung unserer Leben geben, aus denen sich die soziale Revolution zusammensetzt. Es kann nur Anhaltspunkte geben. Es liegt an uns, die Bedeutung dieser Anhaltspunkte in unseren eignen Leben, wo wir uns befinden, zu verstehen.
Einige abschließende Worte
Ich habe dies geschrieben wegen meiner Enttäuschung darüber, welche Richtung die Diskussionen über eine revolutionäre Zivilisationskritik angenommen hat. Dadurch, diese Diskussion selbst von einem uns übergeordneten Ideal ausgehen zu lassen, wurde sie durchdrungen von Dogmen und Moralisierungen, mit konsequenten Missverständnissen auf allen Seiten. Wichtiger ist, dass diese Ideale von geringem Nutzen für diejenigen sind, die versuchen eine revolutionäre Zivilisationskritik mit praktischer Relevanz für die täglichen Kämpfe der Ausgebeuteten gegen ihre Bedingungen zu entwickeln. Um revolutionär zu sein, braucht eine Zivilisationskritik solch eine Relevanz. Das bedeutet, dass sie keine endgültigen Antworten bietet und gewiss auch als ein Stottern, wie jenes der Barbar*innen, die die Sprache der Stadt, das heißt die der Politik, nicht kennen, erscheinen kann. Aber in der Praxis kommt die Verweigerung von endgültigen Antworten Hand in Hand mit dem Schwingen des Hammers des Ikonoklasten, jedes Ideal und Dogma zerstörend, selbst die der Tempel der Anarchie und der Antizivilisation. Meine Hoffnung ist, dass diese geschriebenen Untersuchungen sich als hilfreich beweisen in unserer fortlaufenden Entwicklung einer solchen Kritik.
[1] Tatsächlich wies Nechaeyevs Ersatz einer revolutionären Kritik durch eine moralische Idealisierung der Revolution jedes Prinzip zurück. Im Namen des höchsten Ideals konnte somit alles gerechtfertigt werden. Eine ähnliche Logik erschufen die Kreuzzüge, die Inquisition und den Grande Terreur, der französischen Revolution.
[2] A.d.Ü: Die Bezeichnung „Fruchtbarer Halbmond“ bezieht sich auf ein Gebiet im Norden der arabischen Halbinsel. Dieses umfasst heute: Syrien, Libanon, Israel, Westjordanland und Gaza, Jordanien, Teile von Ägypten, das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris und den Westen des Irans.
[3] Ich denke hier im Speziellen an die definitive Trennung zwischen der europäischen Zivilisation und der des Mittleren Ostens, die mit dem Fall des römischen Imperiums auftrat, obwohl ich davon überzeugt bin, dass sich weitere Beispiele finden lassen.
[4] A.d.Ü.: Die Tiefenökologie ist eine spirituelle „ganzheitliche“ Natur- und Umweltphilosophie. Sie geht zurück auf Arne Næss und ist wissenschaftlich inspiriert von der Gaia-Hypothese von James Lovelock und Lynn Margulis, welche besagt, dass die Erde ein Ökosystem ist, das sich aus verschiedenen Ökosystemen zusammensetzt und im Grunde als Lebewesen verstanden werden kann.
[5] Jetzt, da Ted Kaczynski explizit die Idealisierung von primitiven Menschen, die John Zerzan und sein Gefolge betreiben, zurückweist, wird er plötzlich zu einem Frauenfeind und Homophoben anstatt zu einem Heiligen.
[6] Deswegen habe ich so wenig Geduld mit missionarischen Aktivitäten.
[7] A.d.Ü.: Hier nennt der Autor zwei autonome Kämpfe (einen in den USA, einen in Italien) bei denen versucht wurde über einzelne Forderungen hinauszugehen, Querverbindungen aufzuzeigen und auf Blockade und Sabotage zu setzen. Nachdem diese Kämpfe sich augenscheinlich nicht generalisieren konnten, und hier, im Territorium wo wir leben, keine Referenzen sind, habe wir uns entschieden den Absatz zu kürzen, damit der Text zeitloser ist.
[8] A.d.Ü.: im Original: „large-scale technical systems”; z.B. auch „Autoritäre Technik“ bei Lewis Mumford (in: Autoritäre und demokratische Technik) oder „organisationsabhängige Technologie“ bei Ted Kaczynski (These 208 von „Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft“) im Gegensatz zur „demokratischen“ oder „small-scale-Technologie“. Das heißt im Grunde ein System aus Techniken „das kein Mittel sondern Zweck an sich ist“ (Günther Anders), das selbst von den einzelnen Spezialist*innen nicht mehr zu durchschauen ist und eine Vielzahl von reproduktiven Implikationen mitbringt. Während die small-scale Technologie von allen Betroffen nachvollzogen und angewandt werden kann. Leicht veranschaulichbar am Beispiel Atomkraftwerk: Einerseits sind weder die Konsequenzen des Gebrauchs vorhersehbar, anderseits wird eine souveräne Struktur benötigt, samt Militarisierung und Expert*innenstruktur, die dieses System ermöglicht.